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Informationen zum Thema Achtsamkeit


Unsere Achtsamkeits-Kurse und -seminare


Definitionen von Achtsamkeit

„Achtsamkeit beinhaltet auf eine bestimmte Weise aufmerksam zu sein: bewusst im gegenwärtigen Augenblick und ohne zu urteilen. Diese Art der Aufmerksamkeit steigert das Gewahrsein und fördert die Klarheit sowie die Fähigkeit, die Realität des gegenwärtigen Augenblicks zu akzeptieren.“

„Die Grundhaltung der Achtsamkeitspraxis ist sanft, akzeptierend und nährend. Man könnte sie auch als ٫Leben aus dem Herzen heraus’ beschreiben.“

Jon Kabat-Zinn 2010, 18ff


Das Leben als Herausforderung annehmen

Stress ist ein Phänomen, welches seit Menschengedenken existiert. Gleichwohl verfügen wir bekanntlich über evolutionsbiologisch angelegte Schutzmechanismen, die im Bedarfsfall aktiviert werden können. Aus diesen Gründen wollen wir nicht einem Schreckensszenario und dramatisierenden Debatten das Wort mit dem Postulat reden, es sei gerade heute in Zeiten der Globalisierung von einer zunehmenden stressbedingten Gesundheitsgefährdung der Menschheit auszugehen. Dieser Standpunkt wird oft in Publikationen und in medialer Berichtserstattung unterschiedlicher Provenienz skandalisierend dargestellt. Dagegen sprechen viele Befunde, vor allem, dass über Gesellschaften, in denen im Rahmen eines strukturellen Pessimismus mit einer vermeintlich zunehmenden Überforderung, inzwischen ganz andere gut kontrollierte Studienergebnisse vorliegen. Personen auf einem höheren Einkommensniveau mit erhöhtem Arbeitszeiteinsatz und verstärkter Stressbelastung erfreuen sich einer höheren Lebenszufriedenheit und einer höheren Lebenserwartung, mithin einem besser gestellten Gesundheitsstatus.

Die Realität ist somit weitaus komplexer, wobei die Forschung im naturgemäß kulturbedingten Wandel des allgemeinen Krankheitsverständnisses und einer zunehmenden Sensibilität für Krankheiten auf der Suche nach Methoden ist, die den Menschen dazu befähigen das Leben befriedigender in innerer Erfüllung, Freunde und Zufriedenheit zu gestalten und auf diese Weise vor allem die Gesundheit zu bewahren.

Ein Weg, der heute ebenso gangbar ist wie schon vor 2600 Jahren, bietet sich als eine Halt gebende Kultur des Geistes im sich verändernden Zeitgeschehen an. Und zu den überlieferten traditionellen Methoden zur Schulung des Geistes gibt es zahlreiche Anwendungsfelder sowohl für die moderne Gesellschaft als auch für die wissenschaftliche Forschung, die ihren besonderen Beitrag zur Entwicklung einer neuen und fortschrittlichen Bewusstseinskultur zu leisten in der Lage sind.


Die Achtsamkeit heute und ihr Ursprung

Haben Sie es schon vermutet? Es geht um Meditation. Und Meditation wird noch immer in einer vereinfachten Sicht dem Bereich der Esoterik zugeordnet und daher nicht selten mit Argwohn betrachtet. Der Begriff „Meditation“ stammt von dem lateinischen Wort „meditari“ ab und kann mit „über etwas nachsinnen“ übersetzt werden. Im weitesten Sinne kann es das tiefe Nachsinnen über spirituelle oder philosophische Themen bedeuten. Im Zusammenhang mit Meditation wird des Weiteren der Begriff der „Achtsamkeit“ benannt, dessen eigentlicher Lehrbegriff „Satipațțhāna“ bzw. „Satipațțhāna Sutta“ auf das Pāli-Wort zur umfangreichsten und systematischsten Lehrrede des Buddha verweist und dessen erster Wortbestandteil „sati“ wörtlich mit „Gedächtnis“ übersetzt werden kann, sich allerdings vielmehr auf „Erinnerungsfähigkeit“ sowie „Aufmerksamkeit“ bezieht. Der zweite Wortbestandteil „pațțhāna“ beinhaltet den Sinn eines Gegenwärtighaltens der Achtsamkeit und spricht - wie der deutsche Mönch und Buddhismusforscher Anālayo kommentiert - somit eine Form des „Gewahrseins“ und des „Gegenwärtigseins“ an. Die Wurzeln der Achtsamkeit sind - wie geschildert - buddhistischer Natur und stammen aus der frühen Theravāda-Tradition, doch wir brauchen keineswegs Buddhisten zu sein, um die überlieferten Erfahrungen der Achtsamkeit - für uns zu nutzen. Es geht also keineswegs um einen Glauben in religiöser Hinsicht, sondern um die Erschließung einer bedeutenden Praxis in der Achtung ihrer traditionellen Wurzeln, die es erlaubt, unser Bewusstsein in einer meditativen Praxis der Aufmerksamkeit zu schulen.  

Durch die vielen Ablenkungen sind wir im globalen Alltag gewöhnlich immer wieder durch Erinnerungen, Fantasien, Erklärungen usw. hin- und hergerissen zwischen den Anforderungen aus unserem Umfeld und der Erfüllung eigener Wünsche und Bedürfnisse. Achtsamkeit bietet ein nützliches Regulativ, indem wir lernen unsere Aufmerksamkeit in der Fähigkeit gezielter Konzentration durch Schulung und Training zu verfeinern und auf diese Weise unser Leben in einer gezielten Bewusstseinskultur sinnstiftend zu gestalten. Insofern ist Meditation keineswegs als Technik oder gar als ein Geheimnis aufzufassen. Es geht vielmehr um eine Übungskultur, die es uns erlaubt, Ruhe in uns zu finden und für Frieden mit uns und den Mitmenschen in einer ethisch fundierten Grundhaltung Sorge zu tragen.

Es gibt zu diesem Thema eine Fülle von Literatur, auch Ratgeberliteratur sowie Institutionen, die nicht selten in der Verfolgung kommerzieller Absichten Resultate versprechen, die den gesellschaftlichen Selbstoptimierungstendenzen und der Leistungssteigerung im Sinne von Rentabilität und Nutzen das Wort reden. Es wird in der Vereinfachung komplexer Realitäten zuweilen versprochen, dass wir keinen Stress mehr erleben werden und dass wir klüger und glücklicher leben können, wenn wir nur ausreichend und richtig Meditation nach besonderen vorgegebenen Qualitätsstandards praktizieren würden.

Diese Art der Meditation wollen wir nicht propagieren. In der Erinnerung kommt das Bild einer Nachbarin auf, die jenseits von Religion und Spiritualität nach getaner Arbeit mit ineinander gelegten Armen auf der Fensterbank des geöffneten Fensters ruht und den Kindern beim Spielen genüsslich zuschaut. Sie ist sicher nicht einmal mystisch angehaucht und hat vielleicht auch noch nie etwas von Meditation gehört, doch ihre zufriedene Haltung den Kindern zuzuschauen und ihnen die Freude am gemeinsamen Spiel zu gönnen, kommt dem, was wir unter Meditation verstehen, sicher am nächsten. Für sie ist diese Form des wertschätzenden Mitgefühls mit den Kindern eine Möglichkeit der körperlichen wie psychischen Hygiene, die ihr die Freude am Leben im sorglosen kindlichen Treiben vermittelt.

Die Forschung hat einen großen Beitrag zu den Fragen über die Meditation geleistet, doch oft wird die tiefe Weisheit, die den alten Lehren zugrunde liegt, wie ein Kind mit dem Bade ausgeschüttet. Wir wollen möglichst schnell den Vorbildern eines ehrwürdigen Dalai Lama oder Nelson Mandela entsprechen. Doch ist das möglich? Diese verehrungswürdige Weisheit können wir in keiner Meditationssitzung, in keinem Seminar erfahren, selbst keinem Buch oder gar einer mobilen App entnehmen. Vielmehr handelt es sich um eine Frucht, die wir uns über eine lange Erfahrung, über viele Mühen, vielleicht sogar Krisen, erarbeiten müssen. Es ist die Frucht, die S. H., der ehrwürdige Dalai Lama erst im Exil mit dem Friedensnobelpreis ernten durfte und Nelson Mandela nach siebenundzwanzig Jahren Einzelhaft zugedacht bekam. Und die Folge ist, dass wir nicht selten von Schuldgefühlen geplagt werden, wenn wir es wieder einmal nicht geschafft haben, diesem hohen Ideal gerecht zu werden und die Meditation abgebrochen haben.

Ein Lehrer aus dem inzwischen etablierten Feld der Meditationforschung, von dem nachfolgend die Rede sein wird, ist Professor Dr. Jon Kabat-Zinn, dem zuweilen unrechtmäßig unterstellt wird, seinem Konzept fehle die ethische Grundlage, die die alten Weisheitslehren bekanntlich beinhalten. Sein Ansatz hat sich sehr wohl unter Berücksichtigung der ursprünglichen Lehren und Traditionen als eine wissenschaftliche Anbindung der Meditation in ihrer Wirksamkeit für gesunde wie auch für kranke Menschen - wie inzwischen zahlreiche Studien belegen - erwiesen. Wissenschaft und Buddhismus werden zudem in interkulturellen Dialogen zwischen dem Dalai Lama und namhaften Vertretern ganz unterschiedlicher Forschungsrichtungen im Rahmen der „Mind and Life“-Konferenzen zusammengeführt, in der Absicht, die kontemplative Praxis und die Weisheitstraditionen mit der Wissenschaft in Einklang zu bringen.    


Das achtsamkeitsbasierte Trainingsprogramm

Im Jahre 1979 entwickelte Professor Dr. Jon Kabat-Zinn mit Kolleg/-innen am Medizinzentrum der Universität von Massachusetts/USA das Programm der Stressbewältigung durch Achtsamkeit (Mindfulness Based Stress Reduction, kurz MBSR). 

Der Erfolg sollte den Forschern Recht geben, denn es konnte mit Hilfe der modernen bildgebenden Verfahren in zahlreichen - vor allem neurowissenschaftlichen - Studien nachgewiesen werden, dass das MBSR-Training die beeinträchtigte Gesundheit zu bestärken in der Lage ist und den Menschen dazu befähigt das Leben in Zuversicht gelassener zu gestalten. 

Unter Berücksichtigung der zahlreichen Belege zu den positiven Wirkungen für die Teilnehmer*innen an den entsprechenden Trainingsprogrammen kann davon ausgegangen werden, dass die Verbreitung achtsamkeitsbasierter Methoden weiter zunehmen wird. Einerseits dient damit die Meditation der Gesundheitsförderung, während sie andererseits als wirksame Methode zur Selbsterkenntnis verhilft und somit zum Umdenken in der rast- und ruhelosen Konsumwelt dienlich ist. Die Meditation hat das Potenzial, uns dazu zu befähigen, einen besonneneren Umgang mit uns selbst, innerhalb unserer Beziehungen und mit unserer Umwelt zu schaffen.


Die MBSR-Kurse sind geeignet für Menschen mit ...

... Interesse an körperlich-emotionaler und geistiger Weiterentwicklung, 

... privaten wie beruflichen Herausforderungen/Belastungen,

... Stressanforderungen aller Art,

... dem Bedürfnis ihre Gesundheit zu stärken,

... sich selbst und anderen wohlwollender zu begegnen und mehr Lebensqualität zu entwickeln.


Das Ziel der MBSR-Kurse

Die Kurse verstehen sich unabhängig von Glaubensbekundungen jeglicher Ausrichtung mit dem Ziel, im Kontext der Alltagsanforderungen einen achtsamen und sinnstiftenden Umgang mit sich selbst, mit den Mitmenschen und mit dem jeweiligen Umfeld zu praktizieren. 


Hinweis zur Beachtung: Um eine nachhaltige Wirkung durch den Kurs zu erzielen, wird vorausgesetzt, dass die Teilnehmer*innen eine engagierte Übungspraxis sowohl während der Veranstaltungen als auch im Alltag zwischen den offiziellen Terminen als eine regelmäßige häusliche Aktivität integrieren.


Ihre weiteren Erkenntnisse sind uns wichtig

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Bitte lesen Sie weiter das aktuelle Exklusiv-Interview mit Jon Kabat-Zinn


Runter vom Meditationskissen, raus in die Welt

Für Jon Kabat-Zinn können wir es uns angesichts der globalen Herausforderungen nicht länger leisten, das politische Potential der Achtsamkeit nicht zu nutzen. Höchste Zeit also, aufzustehen und aktiv zu werden.  

Interview: Marc Loewer 

Wir sehen viel Leid in der Welt. Wie können wir als Meditierende die Früchte der Achtsamkeit in die Gesellschaft einbringen? 

Bevor wir in der Welt handeln, sollten wir verstehen, was Meditation wirklich ist. In der Achtsamkeitspraxis geht es nicht nur darum, zu lernen, das In-Stille-Sein zu bewohnen. Es geht auch um Verkörperung, um achtsames Handeln im Dienst der Weisheit und des Mitgefühls für andere und die Welt, weil wir von ihr nicht getrennt sind. Daher muss sie in einem ethischen Boden des Nichtverletzens und der Selbstlosigkeit verwurzelt sein. Wenn wir als Menschen wirklich eine einzige Gattung sind, muss unser Handeln notwendigerweise aus einer Sichtweise kommen, die über Stammesimpulse, die uns als „wir“ und „die anderen“ festlegen, hinausgeht. Wir brauchen jetzt dringend ein einschließendes, allumfassendes nichtduales Verständnis der Wirklichkeit. Das ist keine geringe Absicht für unser eigenes Leben und für unser Handeln in der Welt.

Warum ist das so wichtig?

Unser Entwicklungsweg - das Leben in kleinen, isolierten Gruppen während des allergrößten Teils der Menschheitsgeschichte - hat eine überwiegend auf den Stamm ausgerichtete Mentalität gefördert, die zwischen „meiner Gruppe“ und allen anderen unterscheidet, vor allem jenen, die anders aussehen oder sich anders verhalten oder von denen wir meinen, sie wollten haben, was unser ist, und die daher eine Bedrohung für uns darstellen könnten. Das könnte erklären, weshalb so große Teile unserer Geschichte davon bestimmt gewesen sind, Verwandtschaft, Verbündete und Feinde zu bestimmen und dann zu versuchen, die Feinde zu überlisten oder gar zu töten, bevor sie uns überlisten oder töten. Verschiedene Kulturen schufen Rechtsstrukturen, um ein solches Verhalten zu legitimieren. So haben wir beispielsweise in meinem Land nach dem ursprünglichen Völkermord an der nordamerikanischen Urbevölkerung zuerst die Sklaverei eingeführt und dann die Rassentrennung gesetzlich genehmigt. Wenn du den anderen nicht als vollständig menschlich ansiehst, können Völkermord, Sklaverei und krasse Ungerechtigkeit als etwas Rationales erscheinen, zumindest den Tätern. Das ist ein Wahn, aber ein hoch giftiger. Daher wäre Achtsamkeit gegenüber unseren Tendenzen, Menschen zu „Anderen“ zu machen, eine lohnende Praxis, damit wir nicht achtlos zur fortgesetzten Schädigung anderer beitragen. 

Wo stehen wir in dieser Beziehung heute? 

Von Amerika wird oft als von dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten gesprochen. Und es hat Generationen von Einwandereren tatsächlich unendliche Möglichkeiten geboten. Doch unsere Gesetze waren immer darauf ausgerichtet. die ganz wenigen, die mit den meisten Mitteln, zu privilegieren, und sie tun das bis heute. Gegenwärtig besitzt das reichste Prozent der US-Bevölkerung 38 Prozent des gesamten Vermögens, mehr als die unteren 90 Prozent. Diese Art der Asymmetrie in Bezug auf Vermögen, Privilegierung und Möglichkeiten ist in sich giftig, sofern es andere daran hindert, von ihrer harten Arbeit in der Weise zu profitieren, dass sie wirtschaftlich vorankommen. Bis zu einem gewissen Grad basiert das darauf, dass wir nicht sehen, dass wir alle Menschen sind, auf der Trennung von „mir“ und allen anderen. Dieser Dualismus ist, wie ich schon sagte, an sich schädlich. Aber wir geraten da sehr leicht hinein. Sogar in der Welt der Meditation unterscheiden wir zwischen Menschen, die Mitgefühl, und jenen, die Achtsamkeit praktizieren, als stünden sie miteinander im Wettbewerb. Doch Weisheit und Mitgefühl sind, wie es oft im klassischen Dharma  heißt, die beiden Flügel ein und desselben Vogels der verkörperten Wachheit. Das ist die nichtduale Linse, durch die wir durch Unterschiede und Getrenntsein bis auf eine zugrunde liegende Einheit hindurchschauen können. Wenn du ein privilegierter Mensch bist, der glücklich auf seinem Kissen meditiert, um Glück und Zufriedenheit zu empfinden und nur mit seinem eigenen Leid beschäftigt ist, verstehst du nicht, was Achtsamkeit in erster Linie ist. Stattdessen müssen wir Einsicht in unser gemeinsames Menschsein gewinnen und dann auf der Grundlage dieser Einsicht in der Welt handeln. Das ist derzeit unsere karmische Aufgabe auf diesem Planeten, und die tägliche Praxis der Achtsamkeitsmeditation durch jede und jeden von uns, der das wichtig nimmt, ist der Katalysator ihrer Entfaltung. 

Es gibt unterschiedliche Ansichten zur Weltlage. Einige sagen, die Welt falle irgendwie auseinander. Andere betonen, der Menschheit als Ganzes sei es nie besser gegangen. Wie siehst du das? 

Die Menschheit macht zweifellos in Bezug auf viele Kennwerte in den Bereichen Gesundheit, Wohlbefinden und Bildung sowohl lokal als auch global große Fortschritte. Diese Trends müssen wir fortsetzen und verstärken. Sie werden in zwei kürzlich erschienen Büchern dokumentiert: „Factfulness - Wie wir lernen, die Welt so zu sehen, wie sie wirklich ist“ von Hans Rosling und „Enlightenment Now - Aufklärung jetzt“ von Stephen Pinker. Es gibt allerdings noch viel zu tun. In meinem Land haben wir eine epidemische Nutzung von Opiaten. Und eine Fettleibigkeitsepidemie. Außerdem eine sehr hohe Selbstmordrate, vor allem unter Veteranen des Irak- und des Afghanistankriegs. Das sind Zeichen riesigen Leids in unserer Gesellschaft, die nach achtsamen und mitfühlenden Lösungen, sowohl individuellen als auch gesellschaftlichen, rufen. Menschen essen das schlechteste Essen, weil sie auf irgendeine Weise erfüllt sein müssen. Menschen nehmen Drogen, weil ihnen ihre gegenwärtige Wirklichkeit unerträglich erscheint. In beiden Fällen suchen sie nach einer anderen Wirklichkeit. Doch der Preis für einen kurzzeitigen Frieden endet in einer lang andauernden Abhängigkeit und einer Art Gefangenschaft in unserem eigenen Kopf, der als unser Feind erscheint, wo er doch in Wirklichkeit unser Freund ist - wenn es uns gelingt, uns in wirksamer Weise auf ihn einzulassen. An dieser Stelle kommt Achtsamkeit als Praxis und Seinsweise ins Spiel. Das ist sehr zweckmäßig, wie das 40-jährige Angebot von MBSR in Krankenhäusern und Kliniken auf der ganzen Welt wissenschaftlichen und klinischen Studien zufolge zeigt.

In der jüngeren Vergangenheit haben wir eine sogenannte Achtsamkeitsrevolution erlebt. Sind wir nicht auf dem richtigen Weg?

Ich mag den Ausdruck „Revolution“ oder „Bewegung“ nicht besonders. Aber ja, Achtsamkeit ist viel beachtet worden, das MBSR-Programm und die Wissenschaft haben wesentlich zu diesem Aufblühen beigetragen, was mich sehr freut. Das einzige Problem dabei ist: Wenn etwas Teil des Mainstreams wird, laufen wir Gefahr, dass die Begeisterung ausufert und die Menschen die Verbindung zu den tiefen Weisheitswurzeln der Achtsamkeit verlieren. Die sind in den Lehren des Buddha verankert, werden jedoch in einem allgemeineren Kontext und einer allgemeineren Sprache angeboten, aber - ich betone das - ohne dass sie verflacht oder ihres eigentlichen Charakters beraubt würden. Und ohne in eine Ware verwandelt zu werden. 

Was steht auf dem Spiel, wenn wir die Ursprünge der Achtsamkeit im Dharma nicht erkennen? 

Wir haben jetzt viele Leute, die beanspruchen, Achtsamkeitsexperten zu sein, und Achtsamkeit in unterschiedlichen Bereichen lehren. Viele von ihnen haben nicht einmal eine eigene Meditationspraxis und nicht mit echten Lehrern gelernt. Manchmal mache ich einen Scherz, dass die meisten, die Achtsamkeit „verkaufen“, nicht einmal das Wort schreiben können. Ebenso wenig verstehen sie, dass die fortgesetzte Pflege von Achtsamkeit eine riesige Herausforderung ist. Es ist für uns Menschen eine immense Herausforderung, auch nur zwei Augenblicke hintereinander achtsam zu sein. Doch wenn wir den Hauptgrund, Achtsamkeit zu üben, ignorieren, nämlich uns mit menschlichem Leid, dem eigenen und dem anderer, zu befassen und zu lernen, wie wir uns von ihm befreien können, und es stattdessen einfach zu einer anderen Form der Entspannung oder Stressminderung werden zu lassen, dann könnte das, was wir da entstehen sehen und du eine Revolution nennst - ich ziehe es vor, es als eine beginnende globale Renaissance anzusehen -, egal was sein Potenzial ist, unglücklicherweise aus Unwissenheit oder Selbstherrlichkeit für einige Hundert Jahre davon abgelenkt werden. Das können wir uns auf der Erde zu diesem Zeitpunkt ganz schlecht leisten. Der Dharma ist über die Jahrhunderte in asiatischen Ländern bereits mehrfach durch Verfall und Wiederaufstieg gegangen. Doch heute steht in unserer global verbundenen Welt zu viel auf dem Spiel, als dass wir uns einen erneuten von Unwissenheit oder Ego bewirkten Verfall leisten könnten. Es gibt zu viel Leid in der Welt. Und zu viele Herausforderungen, die durch unser Lebenstempo und die wachsende Bedeutung von Technik in unserem Leben entstanden sind.

Inwiefern hilft Achtsamkeit, all das Leiden zu verringern?

Wir müssen begreifen, dass es bei der Achtsamkeit nicht darum geht, unser Leid zu heilen oder in Ordnung zu bringen, sodass wir in irgendeine glücklichere Vergangenheit zurückkehren könnten. Achtsamkeit kann Heilung katalysieren und zwar eine Bewältigung der Tatsächlichkeit von Dingen im gegenwärtigen Augenblick.

Diese Heilung kann beginnen, wenn wir damit in Kontakt kommen, wie verhaftet wir unserer eigenen Geschichte sind, ja sogar hypnotisiert und abhängig sind wir von ihr. Doch wie auch immer diese Geschichte lauten mag, sie ist nie groß oder genau genug. Unser Gehirn versucht ständig, Antworten auf die Frage „Wer bin ich?“ zu bekommen und dann Geschichten über unser sogenanntes „Selbst“ zu erfinden. Diese Geschichten sind vielleicht nicht völlig falsch, aber sie sind immer viel zu klein. In den MBSR-Kursen fangen Menschen an zu erkennen: Ich bin NICHT mein Schmerz, ich bin NICHT meine Depression. Stattdessen bin ich viel größer als die „Geschichte von mir“, die ich geschaffen habe. Also was bin ich wirklich? Wer bin ich  wirklich? So eine Frage zu stellen und dann in ihr zu bleiben, ist der springende Punkt - eher als unser Denken mit Antworten zu füllen. Der deutsche Dichter Rainer Maria Rilke hatte einiges Tiefgründiges über unser Leben zu sagen. In einem Gedicht seines „Stunden-Buchs“ schrieb er: „Ich bin die Ruhe zwischen zwei Tönen“. Ist das nicht die perfekte Einladung, um Achtsamkeit zu praktizieren? Statt uns mit den Tönen zu identifizieren, lassen wir uns in die Stille zwischen ihnen sinken. Das ist verkörperte Weisheit, genau dann und dort. Und so endet er: „Das Lied (deines Lebens) bleibt: schön.“ Das fängt ein, wie sehr Achtsamkeitspraxis in Wirklichkeit eine Liebesaffaire mit dem gegenwärtigen Augenblick in seiner ganzen Fülle ist und damit auch mit der grenzenlosen Weite der Achtsamkeit selbst.  

Neben dem Leid scheint es für die Menschheit auch Bedrohungen, etwa künstliche Intelligenz, zu geben. 

Diese Entwicklung ist ein weiterer wichtiger Grund, uns zu fragen, was es denn bedeutet, Mensch zu sein. Vielleicht dauert es noch mal 200 Jahre, bis Maschinen die Macht übernehmen. Sie lernen so viel schneller als Menschen. Doch die Algorithmen übernehmen sie schon jetzt, in dem Sinn, dass sie mehr und mehr unsere Erfahrung formen, vor allem auf unseren Smartphones. Aus der Sicht eines Menschen, der vor 50 Jahren gelebt hat, ist unsere Welt Science-Fiction geworden. Und dieser Trend wird sich sicherlich noch beschleunigen. Wer wollte keinen Chip mit einem Gedächtnis-Upgrade in sein Gehirn implantiert bekommen, wenn das möglich wird? Doch wer würde es wie programmieren? Wäre es wirklich unser Gedächtnis? Und würde es nicht bestimmen, wer und wie wir wären und was wir über uns denken würden? Daher ist jetzt der perfekte Zeitpunkt, um innezuhalten und uns zu fragen, wer wir als Gattung sind, und nicht nur die einzigartige Schönheit unseres eigenen Entwicklungspotenzials zu erkennen, sondern auch das des Planeten und aller Geschöpfe auf ihm, von denen wir so viel lernen können. Beispielsweise von Walen, Säugetieren wie wir, die aber im Gegensatz zu uns Salzwasser trinken und damit überleben können. Was für ein Wunder! Stattdessen verschmutzen wir unser Wasser, unsere Luft. Bill Moyers, ein berühmter amerikanischer Journalist, ließ seinen Körper auf Chemikalien untersuchen und fand so heraus, dass er 250 verschiedene giftige Substanzen in sich hatte. Und das gilt für jeden anderen Menschen auf der Erde auch. Wie viel Belastung kann der Körper tragen, bevor wir Zeugen seltsamer Geschehnisse werden? Diese Chemikalien können Gleichgewichte in der Natur zerstören und sogar unsere Chromosomen und die Genexpression verändern. 

Glaubst du, dass die Wissenschaft eine entscheidende Rolle dabei spielt, der Welt Achtsamkeit zu bringen?

Keine Frage. Ohne die Belege ihrer Wirksamkeit aus vielen Studien der letzten 40 Jahre hätten wir nicht dieses Maß an Interesse an Achtsamkeit als Praxis, als Seinsweise, die man im eigenen Leben anwenden kann. In den vergangenen 50 Jahren ist die Erforschung der Achtsamkeit und anderer Formen der Meditation geradezu explodiert, und die Ergebnisse sind überall sehr vielversprechend. Aber nicht nur das. Wissenschaft und Achtsamkeit (als Achtsamkeit gegenüber dem, was die Erde durchmacht) sind noch auf andere Weise eng miteinander verflochten. So können wir beispielsweise dank der Wissenschaft Bilder vom Nord- und Südpol aufnehmen; wir können die Polkappen wie auch die Gletscher weltweit verschwinden sehen und das Tempo ihres Schmelzens messen. Wir können auch die Erwärmung des Planeten, die diese Veränderungen bewirkt, messen. Auf diese Weise hilft uns die Wissenschaft, nicht nur achtsam gegenüber unserem eigenen Geist und Körper zu werden, sondern auch gegenüber dem Körper der Erde.

Dennoch reicht Wissenschaft allein nicht aus, um ethisch zu handeln, wie uns die Geschichte gelehrt hat. In Deutschland hattet ihr außergewöhnliche Wissenschaftler Künstler und Denker, und doch kam Hitler an die Macht und 60 Millionen Menschen starben. Wenn ein Land mit so ausgezeichneten kulturellen Ergebnissen so Schreckliches hat entstehen lassen können, dann ist das in jedem anderen Land unter bestimmten Umständen ebenfalls möglich. In den USA können wir jetzt etwas von den gleichen Vorläufern wie damals auftauchen sehen, von der gleichen Haltung eines „Wir gegen sie“. So gibt es eine wachsende Furcht vor Einwanderern und Dämonisierung und Entmenschlichung von ihnen, sogar in unserer Regierung und seitens unseres Präsidenten.

Das Gleiche geschieht in anderen Ländern in Europa. Aber wir können es uns nicht länger leisten, dass wir zulassen, dass diese von Furcht getragene Haltung unsere Gesellschaften und die Erde beherrscht. Vielleicht ist die Demokratie alten Stils nicht genug. Wir brauchen ein neues Verständnis von ihr, vielleicht eine Demokratie 2.0.

Kannst du mehr dazu sagen?

Ich stelle mir eine vom Verstand und vom Herzen getragene Demokratie voller Mitgefühl vor, in der wir einander zuhören. Zurzeit hören die Leute bloß auf ihren Hallraum und ihre Internetblase. Es gibt so viele falsche Nachrichten - selbst die New York Times, von der die Leute glauben, sie gäbe die Wahrheit wieder, ist hochgradig selektiv. Doch um zu erkennen, was wirklich wahr ist, müssen wir der Situation mit der Linse der Achtsamkeit begegnen. Es reicht nicht, bloß dem eigenen Verstand zu trauen, denn der kann sich irren. Du musst deiner emotionalen Intelligenz, deiner Körperintelligenz trauen, denn dein Körper lügt nie, deiner intuitiven und deiner sozialen Intelligenz, durch die du dich in anderen erkennst. Ich glaube, die Renaissance hat bereits begonnen. Zugleich gibt es Kräfte der Dunkelheit - Menschen, die nicht nur gefährlich sind, sondern auch unglücklich und leidend. Daher müssen wir uns um dieses Unglück kümmern. Wenn der Buddha und Jesus Christus recht haben, dann gilt ihre Botschaft: „Liebe jeden!“ Das ist keine Theorie! Diese Fähigkeit ist in jedem von uns verkörpert, doch sie schläft.

Wie wecken wir sie auf?

Die Erkenntnis tiefen allseitigen Verbundenseins kommt aus einer täglich geübten nicht wertenden Bewusstheit von Moment zu Moment als Praxis. Das ist Achtsamkeit. Du kannst die Arbeit an dir selbst nicht umgehen. Genauso wie du Kraft und Beweglichkeit im Fitnessstudio entwickeln kannst, kannst du auch die Beweglichkeit deines Geistes, die Offenheit von Kopf und Herz, durch eine bewusste formale oder zwanglose Praxis pflegen. Nur dass jetzt die Welt und unser eigenes Leben das Fitnessstudio sind. Auf diese Weise können wir Klarsicht, das Gleichgewicht des Geistes und Gleichmut kultivieren, selbst angesichts des Ungewollten, von Wut oder Furcht - die du häufig findest, wenn du etwas an der Oberfläche deiner Wut kratzt. Werden sie mir wegnehmen, was ich habe? Werden meine Kinder nicht so gut abschneiden wie die anderer Leute? Warum sollten die besondere Privilegien erhalten und ich nicht? Wir sollten solchen Fragen trauen, aber zugleich müssen wir sehen, dass das Problem im „ich“ und „mir“ liegt.

Welches Verhältnis sollte ich zu „mir“, „mir selbst“ und „ich“ haben? Zu den Pronomen?

Wenn du dir die Frage stellst „Wer bin ich?“, und dann darauf achtest, was in deinem Geist auftaucht, wirst du sehen, dass du Geschichten erfindest: Erzählungen davon, wer du bist, vielleicht ein Ehemann, ein Vater, ein Sohn, eine Mutter, eine Tochter, dass du dies oder jenes tust ... Aber am Ende musst du dir eingestehen, dass du keine Ahnung hast, wer du wirklich bist. Es ein großes Geheimnis. Allerdings eins, in das du hineingehen kannst - und mit dem du dich durch dein Gewahrsein anfreunden kannst. Das ist Achtsamkeit. Eine Einladung, im einzigen Moment, den du je haben wirst - diesem nämlich! -, alle Dimensionen des Menschseins zu bewohnen.

Wie wäre es also, wenn du morgens nach dem Aufwachen, statt im Autopiloten ins Bad zu rennen, fünf Minuten damit verbringen würdest, im Bett zu liegen und dich zu fragen: Bin ich wirklich wach? Und mit meinem Körper in Verbindung? Wie empfinde ich das? Oder wenn du dein Kind schlafen siehst und siehst, was für ein Wunder dein Kind ist und was für ein Rätsel. Wer ist er oder sie wirklich?

Du könntest ganz wirklichkeitsgetreu sagen, dass dein tägliches Leben, wenn es auf Autopilot Iäuft, ein Traum ist. Achtsamkeit ist eine Einladung, aufzuwachen. Vollständig aufzuwachen. Und nicht wieder einzuschlafen!

Sollten wir also andere ermuntern aufzuwachen?

Sicher. Achtsamkeit und MBSR sind nichts anderes und sind nie etwas anderes gewesen. Aber du musst vorsichtig sein. Wenn du behauptest: „Ich bin wach“, wer macht dann diese Aussage, und straft sie sich selbst nicht Lügen? Wenn du wahrhaftig wach bist, ist das Letzte, was du oder sonst wer braucht, dass du irgendetwas dazu sagst. Du brauchst keine Erzählung mehr. Du tust einfach, was nötig ist. Und genießt zu sein. Und in dieser Welt von Nutzen zu sein, anderen zu helfen, Leid zu verringern, Verständnis zu vergrößern, Gerechtigkeit und Mitgefühl zu unterstützen.

Daher ist es wichtig nicht in den Dualismus zu verfallen, etwa, dass du achtsam seist und jemand anderer nicht. Die Frage bleibt stets: „Wer bin ich?“ „Wer denkt?“ „Wer ist an eine bestimmte Erzählung gebunden.“ Wir sollten nicht in ein Denken verfallen: „Ich bin wach, aber du nicht!“ Wieder ist die Frage: „Wer bin ich?“ „Wer macht diese Aussage.“ Deshalb antwortet der Dalai Lama auf Fragen oft mit: „Ich weiß nicht.“ Im Nichtwissen und im Wissen, dass du nicht weißt, solltest du wohnen und von hier aus mit Herz und Verstand zum Wohl anderer und der Welt handeln.

Herzlichen Dank für dieses Interview!

Sonderdruck aus: moment by moment, Hammer Solutions Media (2018, 4-15)


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